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 Home Prosa Aus dem Hinterhof der Seele

15.12.2005, © Vivienne

Was wirklich zählt im Leben…

Dr. Freilinger breitet die Zeitung auf dem Frühstückstisch aus.
Selten genug hatte er Muße.
In aller Ruhe zu frühstücken.
Die Schlagzeilen überschlugen sich im Gesellschaftsteil.
Ernst Lubowski war gerade erst ein paar Tage unter der Erde.
Schon stritten sich die Erben um sein Geld.
Ernst Lubowski.
Der berühmte Schauspieler.
Frauenheld.
International erfolgreich.
Schon erhoben zwei der Ex-Frauen Anspruch auf einen Teil des Erbes.
Von den drei Kindern erst gar nicht zu reden.
Private Details wurden an die Öffentlichkeit gezerrt.
Zum Gaudium der Leser.
Freilinger blickte aus dem Fenster.
Nachdenklich zündete er sich eine Zigarette an.
Lubowski hatte viele Jahre eine Villa in der Nähe bewohnt.
Lubowski, der ein Dufreund von ihm gewesen war.
Und den er vor zehn Tagen aufsuchen hatte müssen.
Zum letzten Mal….

Freilinger schloss die Augen.
Lubowski hatte Krebs gehabt.
Schon sehr lange.
Aber einige Zeit hatte man die schwere Krankheit kontrollieren können.
Ganz gut.
Mit Medikamenten.
Und mit einer Spezialdiät.
Zwei Jahre fast hatte niemand davon geahnt.
Lubowski dreht sogar ein paar Filme für das Fernsehen.
In der Zeit.
Und er ließ sich wegen einer jüngeren Frau scheiden.
Wollte das Leben noch einmal genießen.
In vollen Zügen.
Mit einer jungen Gefährtin.
Und allem, was Geld bezahlen konnte.
Die Frau ließ ihn stehen.
Als Lubowski einen schweren Rückfall erlitt.
Völlig unerwartet.
Und Metastasen festgestellt wurden.
Im ganzen Körper.
Nur keinen Kranken pflegen müssen!
Die Geliebte verschwand auf die Minute.
Dafür drängten die Kinder ans Krankenbett.
Erwachsen.
Erfolglos.
Abgebrannt.
Sie sorgten sich nicht.
Sie wollten Geld.
Im Testament berücksichtigt werden.
Mit mehr als nur einem Pflichtteil.
Lubowski ließ sie alle rauswerfen.
Suchte eine Privatklinik in der Schweiz aus.
Für eine Spezialtherapie.

Freilinger presste die Lippen aufeinander.
Voller Hoffnungen war Lubowski losgefahren.
Er hatte sogar schon wieder ein Angebot.
Für einen neuen Film.
Wenn es ihm wieder besser gehen würde…
Freilinger erinnerte sich.
Mitten in der Nacht war Lubowski zurückgekommen.
Überraschend.
Mit versteinertem Gesicht.
Und eingetrockneten Tränenspuren.
Man hatte ihm in der Schweiz nicht helfen können.
Lubowski erwähnte es nicht besonders.
Er bat ihn nur um medizinische Kontrolle.
Wann immer es nötig sein würde.
Lubowski hatte während des Gesprächs den Hut nicht abgenommen.
Freilinger wusste warum.
Der Schauspieler hatte keine Haare mehr auf dem Kopf.
Die schwere Chemotherapie hatte den früheren Frauenhelden gezeichnet.
Die einstmals üppigen Locken hatte er verloren.
Der Krebs war trotzdem stärker gewesen.
Sehr viel stärker.
Lubowski war nie ein Jammerer gewesen.
Aber in der Situation hatte er oft die Tränen nicht mehr zurückhalten können.
Die Schmerzen.
Und die Einsamkeit.
Er wollte niemanden mehr sehen.
Nicht seine Frauen.
Nicht sein eigen Fleisch und Blut.
Sie alle stritten sich nur um das Erbe.
Wie es ihm ging, war ihnen allen egal.
Ohne Ausnahme…

Freilinger legte die Zeitung wieder zusammen.
Ihm fiel der Anruf neulich abends wieder ein.
Er war sofort losgefahren.
Lubowski krümmte sich im Bett.
Die Krankheit hatte ihn völlig verändert.
Kaum einer seiner Fans hätte ihn noch erkannt.
Lubowski sah Freilinger nur an.
Ich kann nicht mehr.
Du musst mir helfen.
Ich halte es nicht mehr aus.
Bitte.
Freilinger hatte ihn kurz angesehen.
Schließlich spritzte er ihm ein Schmerzmittel.
Nachdem er Minuten eine Vene gesucht hatte.
Fast vergeblich.
Du musst ins Spital.
Ich kann nicht mehr viel tun.
Ich rufe die Rettung.
Freilinger krampfte sich zusammen.
Als man Lubowski aus dem Schlafzimmer trug.
Im Wohnzimmer ließ der Schauspieler die Rettungsleute halten.
Vor der Wand eine Vitrine mit Auszeichnungen.
Ehrungen für den großen Mimen.
Fotos mit anderen Stars.
Und bei der Oscarverleihung…
Lubowski sog das alles in sich auf.
Sekunden ein Lächeln auf seinen Lippen.
Minuten, in denen er kein Wort sprach.
Sich aber kaum losreißen konnte.
Von seinen Erfolgen.
Dann sank er auf der Trage zurück…

Lubowski überlebte die Nacht nicht.
Es hatte Freilinger geschmerzt, den Freund sterben zu sehen.
Verlassen und einsam.
Ohne jemand, der bei ihm war.
In dieser Stunde.
Ihm gut zuzureden.
Oder einfach die Hand zu halten.
Sein letzter Trost waren seine Auszeichnungen gewesen.
Lubowski hatte gewusst.
Dass er nicht zurückkommen würde…
Welch ein Leben im Erfolg!
Und welche ein Sterben in Dunkelheit.
Ohne Hoffnung.
Ohne Liebe…
Mit Gewalt riss sich Freilinger von den Bildern los.
Nein, er war froh.
Froh, dass er nicht berühmt war.
Nie berühmt sein würde.
Kein Klatschreporter wusste von dem Arzt.
Der Lubowski zuletzt betreut hatte.
Er, Freilinger, brauchte auch keine Publicity.
Der Arzt blickte auf.
Seine Frau werkte in der Küche.
Seine Tochter hörte er im Bad.
Noch schlaftrunken.
Er schmunzelte.
Es war gestern spät geworden für den Teenager…
Nein, er, Freiliner, war nicht berühmt.
Und nicht erfolgreich.
Aber hatte er nicht viel mehr?
Viel mehr als so mancher Star wie Lubowski?

Vivienne

 

 

 

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