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 Home Prosa Aus dem Hinterhof der Seele

22.04.2005, © Vivienne

Wie ein Blatt im Wind…

Ursula Manschitz werkte in der Küche.
Graue Strähnen ihres Haares wehten ins Gesicht.
Ihr Gesicht war fahl.
Wie aus Papier.
Vor zwei Tagen war ihr Mann gestorben.
Nicht mitten aus dem Leben gerissen.
Oder unerwartet.
Ein langsames Krebsleiden hatte ihn in die Knie gezwungen.
Trotz all seines Widerstandes.
Und jetzt musste sie sich um alles kümmern.
Um all die Dinge, die es zu regeln galt…
Die Beerdigung etwa.
Fast hatte sie das Gefühl, es ging alles über ihre Kräfte
Im Grunde wollte sie selber sterben.
Nach über fünfundzwanzig gemeinsamen Jahren…
Wären da nicht ihre drei Kinder.
Vor allem Harald.
Ihr Ältester.
Er hatte nicht mehr gesprochen seitdem sein Vater gestorben war.
Kein Wort.
Er war einfach fort gegangen.
Nachdem der Anruf aus dem Spital gekommen war.
Erst spät in der Nacht war er wieder heimgekommen.
Sie war wach gelegen.
Und hatte gehört, wie er die Stiege hochging.
Torkelte.
Und sie hatte gewusst, er hatte getrunken.
Obwohl er es sonst nie tat.

Harald setzte sich in sein Auto.
Der Kollege rief ihm nach.
Harald öffnete die Wagentür halb.
Was ist los?
Jürgen kam zu ihm.
Tut mir leid das mit deinem Vater.
Möchtest du heute Abend nicht zu uns kommen?
Mit deiner Familie?
Es würde euch gut tun…
Die Autotür fiel krachend zu.
Nein.
Jürgen spürte in diesem einen Wort eine hohe Mauer.
Unüberwindbar.
Er blickte ihm nach.
Kopfschüttelnd.
Harald sah ihn im Rückspiegel.
Und kämpfte einen Moment gegen ein Würgen im Hals.
Im selben Moment ballte er die Faust.
Er würde nicht weinen.
Er hatte es geschworen.
Zu schnell lenkte er den Wagen in das Ortszentrum.
Parkte.
Und ging in das nahe Wirtshaus.
Der Kellner nickte ihm zu.
Und eine Minute später stand eine Halbe Bier am Tisch.
Harald atmete laut.
Und begann zu trinken.

Ursula Manschitz hatte abgenommen.
Zehn Kilo in einem halben Jahr.
Seit dem Tod ihres Mannes.
Der Arzt hörte sie mit dem Stethoskop ab.
Ihr Herz ist unruhig.
Seit wann haben Sie die Schmerzen im Bauchraum?
Frau Manschitz überlegte.
Ich weiß nicht.
Fast ewig.
Da hat mein Mann noch gelebt.
Ich dachte das wäre der Kummer…
Der Arzt griff skeptisch nach dem Kugelschreiber.
Ich möchte das abklären.
Legen Sie sich ein paar Tage ins Spital.
Sie sehen nicht gut aus…
Ursula Manschitz wollte widerspechen.
Aber meine Kinder?
Wer kocht für sie?
Wer sorgt für sie?
Der Mediziner unterbrach sie.
Da werden wir eine Lösung finden.
Jemand im Ort wird sich schon um sie kümmern.
Was ist überhaupt mit ihrem Ältesten?
Harald?
Ursula blickte zu Boden.
Er ist so anders geworden…
…seit sein Vater starb.

Ursula Manschitz lag im Krankenhausbett.
Ihre Wangen waren noch mehr eingefallen.
Ihre Augen blickten an die Decke.
Ins Leere.
Sie hatte eine Reihe von Untersuchungen hinter sich.
Gestern hatte sie den Grund erfahren.
Für ihre Appetitlosigkeit.
Und die großen Schmerzen.
Krebs an der Bauchspeicheldrüse.
Hoffnungslos.
Man würde eine Chemotherapie machen.
Und ihr etwas gegen die Schmerzen geben.
Mehr konnte man nicht mehr tun…
Harald hatte sie gestern noch mit Blumen im Spital besucht.
Sie hatte ihm von der schlimmen Diagnose berichtet.
Und er hatte sie nur angestarrt.
Wie gelähmt.
Unfähig zu sprechen.
Dann war er davon gelaufen.
Ohne ein weiters Wort.
Ursula ahnte wohin…

Harald saß wieder im Lokal.
Seine Augen waren glasig.
Er wusste nicht mehr, wie viel er schon getrunken hatte.
Er wusste auch nicht, wie spät es war.
Es war ihm egal.
Alles.
Plötzlich spürte er eine Hand am Revers.
Ungelenk drehte er sich um.
Hob die Faust.
Und blickte in das Gesicht seines Chefs.
Der ihn anschrie.
Harald begriff seine Worte nicht.
Sein Chef zerrte ihn auf die Toilette.
Steckte den Kopf unter de Wasserhahn.
Und drehte das Wasser auf.
Harald erschrak.
Wollte weglaufen.
Aber sein Chef hielt ihn fest.
Wie in einem Schraubstock.
Harald hörte ihn wieder schreien.
Aber bald verstand er jedes Wort.

Die Wirtsstube hatte sich geleert.
Harald saß in einer Ecke.
Sein Oberkörper war völlig nass.
Von seinen Locken tropfte Wasser.
Er fühlte sich seltsam.
Sein Chef saß neben ihm.
Bist du wieder nüchtern?
Er zündete sich eine Zigarette an.
Bot Harald eine an.
Warum lässt du dich so gehen?
Wie ein Blatt im Wind?
Harald, so kannte ich dich nicht!
Seit Monaten sehe ich dir zu!
Du säufst nur mehr.
Du sagst kein Wort.
Du lachst nicht mehr.
Und du bist unzuverlässig geworden.
Was zum Teufel ist in dich gefahren?
Harald wich dem Blick seines Chefs aus.
Er fühlte sich plötzlich schuldig.
Und er spürte wieder das Würgen im Hals.
Wie so oft seit dem Tod seines Vaters.
Schließlich drehte er sich zu seinem Chef um.
Und begann zu weinen.
Wie ein Kind…

Vivienne
 

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