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25.05.2005, © Vivienne

Die Ballade vom Abschließen der Vergangenheit

Engel 1717 lehnte sich das Geländer der Brücke.
Ein wundervoller Tag ging zu Ende.
Sein Blick schweifte scheinbar verträumt über die wunderschöne Landschaft.
Und den herrlichen blauen Strom.
In Wirklichkeit beobachtete er aus den Augenwinkeln jemanden.
Einen Mann.
Ein paar Schritte neben ihm.
Er schien sich zwar ebenso auf die schöne Gegend zu konzentrieren.
Auf den zweiten Blick wirkte er aber griesgrämig.
Er murmelte halblaute Sätze.
Sein Mund war schmallippig und verkniffen.
Eine leichte Brise wehte  ihm einen Prospekt aus der Hand
1717 war sofort zur Stelle.
Er hob ihn auf und reichte ihn dem Mann.
Der brachte kein Danke über die Lippen.
Er wandte sich wortlos wie brüsk ab.
Engel 1717 lächelte.
Er ließ sich nicht beirren.
Gefällt es Ihnen hier nicht?
So einwunderbares Land.
Nirgendwo ist das Wasser so blau wie hier.
Finden Sie nicht?

Missmutig wandte sich der Mann um.
Natürlich ist es schön hier.
Von hier stammt meine Familie.
Aber wenn ich nur daran denke!
Mein Zug hatte fast fünfundzwanzig Minuten Verspätung!
Mir kommt noch immer die Galle hoch!
Die Bahn ist ein Skandal!
Sie stiehlt ihren Gästen die Zeit!
Engel 1717 hob die Brauen hoch.
Fast hätte er losgelacht.
Und deshalb sind Sie noch immer sauer?
Statt sich zu freuen, dass Sie endlich hier sind?
Da ist doch alles andere nebensächlich!
Oder nicht?
Sein Gegenüber wirkte verständnislos.
Aber die Verspätung bleibt doch!
Und die Bahn bemüht sich gar nicht, so was zu vermeiden.
Das ist doch ein Skandal!
Er war noch ganz Empörung.
1717 schüttelte den Kopf.
Nein.
Nicht die Verspätung bleibt.
Sehen Sie sich doch um!
Das alles hier bleibt.
Es hat auf Sie gewartet.
Trotz der Verspätung.
Ist das nicht viel wichtiger?

Der Mann schien nachzudenken.
Es arbeitet in seinem Gesicht.
Seltsam.
Wie Sie das sehen…
Er suchte  nach Worten.
Ich glaubte das nämlich nicht.
Dass so ein positiver  Eindruck überwiegt.
Alles Negative verblassen lässt.
Ich kann mich ewig über Dinge ärgern.
Dinge, die die nicht so gelaufen sind.
Wünsche, die sich nicht erfüllt haben.
Er seufzte.
Und das ist so oft passiert.
Sehr oft sogar!
1717 musterte ihn interessiert.
Warum ärgern Sie sich so oft über solche Dinge?
Warum haken Sie das nicht einfach ab?
So wie den verspäteten Zug?
Das kostet Sie doch viel Kraft!
So viel Kraft!
Der Mann schwieg betreten.
Ich weiß nicht.
So lange ich denken kann hat mich der Ärger beherrscht.
Schon in der Schule.
Etwa wenn ich in einer Prüfung eine sehr gute Not hatte.
Das war alles wertlos.
Wenn jemand noch besser war als ich.
Ein Fünfer hätte mich nicht so ärgern können!

Der Engel schüttelte den Kopf.
Das versteh ich nicht!
Wer zwingt Sie der Beste zu sein?
Immer und überall?
Und wenn ich Sie ansehe:
Sie ärgern sich ja selbst jetzt noch.
Wo Sie mir davon erzählt haben.
Dabei ist das doch Jahre vorbei!
Lassen Sie die Vergangenheit Vergangenheit sein.
Sie leben hier und jetzt.
Und diese Zeit ist kostbar.
Sie kommt nicht mehr zurück!
Der Angesprochene starrte 1717 mit großen Augen an.
Kann man das denn?
Mir sind immer nur die dunklen Dinge des Lebens in Erinnerung geblieben.
Wenn ich mich so erinnere…
Nein.
Mir fällt wenig Positives ein.
Ich weiß nicht warum.
Ich kann mir das gar nicht erklären…

Der Engel legte ihm die Hand auf die Schulter.
Dann sollten Sie das ändern.
Denn:
Wenn Sie zurückkehren in Ihre Stadt.
Wollen Sie sich doch nicht an die Bahn erinnern.
Und an die Verspätung.
Sondern welch herrliches Land Sie hier gesehen haben…
Lohnt das nicht jede Erinnerung viel mehr
?
Der Mann lächelte.
Das erste mal in dem Gespräch.
Da haben Sie nicht Unrecht.
Die Bahn ist eben die Bahn.
Aber diese Landschaft.
Diese Eindrücke…
Sie sind wundervoll!
Ein Erlebnis!
Und durch Sie erkenne ich das erst.
Ich danke Ihnen
1717 nickte zufrieden.
Der Mann fing an zu begreifen…

Vivienne
 

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