Die weiße Herrenjacke

Die 70er Jahre waren schrill, Hippies, Bob Marley und Glockenhosen waren legendäre Markenzeichen dieser Ära. Mein älterer Bruder Alfredo erlebte in dieser Zeit seine Pubertät und machte vieles, aber nicht alles mit. Natürlich geriet er mit seinen Vorstellungen auch in Widerspruch zu meinen Eltern, die oft andere Erwartungshaltungen pflegten, wie man sich etwa anzuziehen hatte. Alfredo ließ sich aber nicht beirren, er ging Streits zwar tunlichst aus dem Wege, bisweilen aber war dicke Luft daheim angesagt. Aber wann gibt es in einer Familie keinen Streit, wenn ein junger Mensch erwachsen wird…?

Ich erinnere mich noch genau, einmal kam Alfredo mit einer tollen weißen Kunstlederjacke nach Hause. Sie war modisch kurz geschnitten und mit einem Pelz gefüttert. Alfredo sah echt edel darin aus, das musste sogar ich zugeben, aber ich tat es nicht laut, denn mein Vater, ein konservativer Mann, schüttelte den Kopf. „Wie kann man nur so etwas anziehen?“ Meine Mutter, Alfredos Stiefmutter, schlug die Hände über dem Kopf zusammen. „Das kann ich doch unmöglich in der Waschmaschine waschen!“ Alfredo zuckte die Achseln. Er war gerade 17 Jahre alt und schwer verliebt und das Gezeter ging an ihm vorbei. Die Jacke hatte er mit der Lehrlingsentschädigung gekauft, in einem Second-Hand-Shop in Linz, und sie war trotzdem nicht billig gewesen.

Aber was tut man nicht alles als Teenager um die Frau des Herzens zu beeindrucken! Und mir fiel in der Folge auf, dass er die Jacke jedes Wochenende trug, wenn er sich mit Freunden in Discos und Lokalen traf. Er trug sie fast bis ins Frühjahr, aber da sah sie schon etwas grau aus. Schließlich war sie kein einziges Mal gewaschen worden, seit er sie erworben hatte. Noch einmal wagte er einen Vorstoß bei meiner Mutter. Ob sie nicht doch… Aber meine Mutter lehnte lautstark ab. „Nie! Ich übernehme keine Garantie.“ Mein Bruder war beleidigt. Er verlor kein Wort mehr darüber und ich habe ihn in den folgenden Tagen selten so schweigsam gesehen. Einer meiner anderen Brüder meinte schließlich, Alfredo habe die Jacke in die Reinigung gebracht. Damals existierte in der Nachbargemeinde noch eine „Chemische Reinigung“, wo von Anzügen bis Kostümen alles sauber gemacht wurde, das sich der Waschmaschine verweigerte.

Ich war schon gespannt, wann Alfredo wieder mit seiner Jacke auftauchen würde. Er hatte einfach „heiß“ ausgesehen darin, wie man heute sagen würde. Aber Alfredo wurde immer schweigsamer, und als ich ihn in kindlicher Neugier einmal fragte, wann er denn die tolle Jacke wieder tragen würde, sah er mich nur unwirsch an. Ehrlich gesagt, ich begriff gar nichts. Hatte Alfredo seine Jacke wieder verkauft? Wollte er deshalb nicht darüber sprechen? Und schließlich vergaß ich fast auf das coole Kleidungsstück. Als Alfredo wieder einmal in der Arbeit war und meine Geschwister und ich wieder einmal heimlich in sein Zimmer schlichen, um dort die „Bravo“ zu lesen, machten wir aber unerwartet eine Entdeckung. Auf der Suche nach der Teenagerzeitschrift stieß ich eine der Türen des Kleiderkastens auf. Ich weiß noch, wie ich erschrak, weil die Tür so laut knarrte.

Sofort sprang ich hin, um sie zu wieder zu zu machen. Schließlich musste unsere Mutter ja nichts davon bemerken, dass wir im Zimmer des älteren Bruders ausgerechnet die „Bravo“ lasen – das wäre ja ein Grund für zwei Wochen Hausarrest gewesen, mindestens. Aber Mutter hatte nichts gehört, während ich in Alfredos Kleiderkasten ganz unten etwas entdeckte, strahlend weiß, aber es griff sich irgendwie steif an, fast wie ein Koffer. Ich musste ein zweites Mal hinsehen, aber dann erkannte ich eindeutig: Das war Alfredos Jacke! Vorsichtig hob ich sie aus dem Kasten. Tatsächlich, sie war völlig steif, aber auch strahlend weiß.

Ein Ritter hätte sie jetzt problemlos als Schutzschild verwenden können. Wir Kinder standen staunend um dieses Ding herum, das einmal eine Jacke gewesen war – dann begannen wir zu lachen und zu kichern und herumzualbern. Selbst Bravo hatte da vorläufig Pause. Das heißt: wenn ich ehrlich war, mir war im ersten Moment schon ein wenig leid um die schöne Jacke und ich konnte nun verstehen, warum Alfredo so still geworden war. Seine Enttäuschung, dass man in der Reinigung auch nicht zurechtgekommen war mit seiner flotten Jacke, musste wirklich groß gewesen sein. Unsere Mutter hatte jedenfalls Recht behalten mit ihrer Weigerung, diese zu waschen – da wären wohl die Fetzen geflogen, wenn sie Alfredo die Jacke nach dem Waschen ganz steif übergeben hätte…

Nach einer wahren Begebenheit

© Vivienne

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