Leid, das niemals endet

Mein Vater ist mittlerweile ein Mann von 76 Jahren und hat in dieser Zeit so viel erlebt, das fast für zwei oder drei Leben ausreichen könnte: das Bereisen schöner und ferner Länder wie fast unaussprechlichem Kummer – so starb einer seiner drei Söhne aus erster Ehe nicht einmal zwei Jahre alt bei einem tragischen Unfall und seine damalige Frau verwand diesen Schicksalsschlag nie: sie erkrankte an Leukämie und verstarb mit 37 Jahren – den geliebten Sohn überlebte sie nur etwas mehr als zwei Jahre. Sein Kind zu verlieren ist wohl mit das Schlimmste, das einem Menschen passieren kann und nur wenige lernen es, mit diesem Verlust halbwegs zurecht zu kommen.

Viele erkranken seelisch und selbst eine Therapie hilft den wenigsten wirklich weiter. Das wird mir immer vor Augen geführt, nicht nur, wenn ich unsere Familiengeschichte durchgehe. Mir fällt dann nämlich auch immer eine Geschichte ein, die einen Arbeitskollegen meines Vaters aus dessen Zeit in der Vöest betrifft. Mein Vater hat sie öfter erzählt, wenn wir an der Donau spazieren gingen und ich vermag dadurch erst zu ermessen, wie viele Leute eigentlich in ihrem Leben einen derart herben Schlag hinnehmen mussten… Ein Schlag nachdem man vielleicht wieder aufstehen kann, aber nach dem man nicht mehr zu gehen vermag, sondern nur mehr zu wanken…

Hermann Krieglacher kenne ich als einen netten älteren Herrn, der, wie schon erwähnt, ein paar Jahre mit meinem Vater dieselbe Schicht teilte. Wenn ich Krieglacher treffe, schwatzt er immer kurz mit mir und erkundigt sich, wie es meinem Vater geht. Was ich lange nicht wusste war, dass Krieglacher verheiratet ist. Seine Frau habe ich nie zu Gesicht bekommen, aber das schmucke Häuschen an der Donau, das er gemeinsam mit ihr gebaut hat, sieht noch immer sauber und gepflegt aus mit den hübschen Pelargonien und Fuchsien an den Fenstern. Krieglacher hat vor weit über vierzig Jahren geheiratet und hatte zwei Kinder mit ihr. Zwei Buben, acht und neun Jahre alt.

Die beiden Kinder spielten gerne am Ufer der Donau, Frau Krieglacher saß im Sommer meistens strickend vor dem Haus und beaufsichtigte dabei die Buben. An einem Frühsommertag vor über 35 Jahren vergaß sie die Zeit dabei. Sie war völlig ins Stricken vertieft und hatte dabei außer Acht gelassen, dass die Donau wegen einer Regenperiode zuvor relativ hoch stand. Gegen Abend registrierte sie erst, dass sie ihre Söhne schon längere Zeit nicht gesehen hatte. Sie begann nach ihnen zu rufen, schließlich lief sie die paar Meter hinunter zur Donau. Aber von den Kindern war weit und breit nichts zu sehen, nur das Spielzeug schwamm im flachen Wasser sichtbar.

Man kann sich nur ungenügend vorstellen, was in der Frau damals vorging. Sie muss das halbe Ufer abgelaufen sein, nach ihren Kindern schreiend, und es dauerte eine Weile bis jemand auf ihr verzweifeltes Rufen reagierte, die Gendarmerie und die Rettung verständigte. Mein Vater erinnert sich gut, dass er sie an dem Abend dasitzen sah, auf dem Stuhl vor dem Haus, auf dem sie den ganzen Nachmittag gesessen hatte, und kein Wort sagte. Sie starrte nur geradeaus vor sich hin, als suche sie irgendwo am Horizont verborgen ihre Kinder. Ein paar Tage später fand man die Leichen der beiden Buben, die beim Spielen in tieferes Wasser geraten sein mussten, ausrutscht sein dürften und hilflos im hohen Wasser ertranken, wahrscheinlich ohne überhaupt um Hilfe rufen zu können.

Frau Krieglacher erlitt auf dem Begräbnis ihrer Söhne einen Nervenzusammenbruch, von dem sie sich nie mehr richtig erholte. Sie verbrachte einige Wochen in der Landesnervenklinik, als sie wieder nach Hause kam, war der Sommer fast vorbei und sie sah blass und abgemagert aus. Und sie hatte begonnen mit großen Puppen zu spielen, sie wickelte sie, sie zog sie an und aus und wieder an, legte sie in ihre Betten, kochte ihnen Essen und vor allem redete sie mit ihnen. Diese beiden großen Puppen trugen die Namen ihre beiden Söhne und wie für die Verstorbenen häkelte, strickte und nähte sie Kleidung, Socken, Jacken und Pullover. Um den Haushalt konnte sie sich nicht mehr richtig kümmern, eine Nachbarin hatte ein Auge darauf, dass Frau Krieglacher wohlauf war und nichts anstellte, wenn ihr Mann in der Arbeit war.

Aber Frau Krieglacher stellte nichts an, sie redete nur ständig mit ihren Puppen, sie wiegte sie und sang sie in den Schlaf. Prozess wegen Vernachlässigung der Aufsichtspflicht wurde ihr keiner gemacht – sie war nicht mehr zurechnungsfähig. Frau Krieglacher war aus der unbarmherzigen Realität in eine Traumwelt geflüchtet, in der ihre Kinder noch lebten und sie ihnen eine gute und liebevolle Mutter sein konnte. Die einzige Möglichkeit, weiterzuleben, irgendwie. Herr Krieglacher hatte es nicht so leicht, bis zum heutigen Tag versorgt er seine Frau, die er am selben Tag verloren hat wie seine Söhne, so gut er kann. Aber für ihn hat der Albtraum nie aufgehört…

Nach einer wahren Begebenheit.

© Vivienne

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