Neue Bohnen Zeitung


von Vivienne  –  Oktober 2004



Ritas neues Leben

Siegfried lag im Bett und schnaufte schwer.
Sein Gesicht war bläulich verfärbt.
Schon seit einigen Monaten.
Seit das Herzleiden im Winter akut geworden war.
Rita saß bei seinem Bett.
Als das Röcheln ihres Mannes lauter wurde, legte sie ihr Buch beiseite.
Soll ich das Fenster öffnen?
Ein unverständliches Murmeln kam als Antwort.
Rita wertete es als Zustimmung.
Sie stand auf und kippte das kleine Fenster.
Der Wind wirbelte die Gardine beiseite.
Rita verharrte einen Moment am Fenster.
Verfolgte mit ihrem Blick die Wolken, die wie zerrissen am Himmel davoneilten.
Fast sehnsüchtig starrte sie den grauweißlichen Gebilden nach.
Siegfrieds Röcheln riss sie aus den Gedanken.
Möchtest du etwas trinken?
Ihre Stimme klang aufmerksam wie immer.
Aber in ihrem Inneren fühlte sie die Faust kalter Leere.
Sie drehte sich um.
Siegfried schnaufte wieder lauter.
Rita schloss das Fenster wieder.

Schnellen Schrittes ging sie zum Nachtkästchen.
Das Handy lag dort neben einem Glas mit Wasser.
Dr. Herwig zu sprechen?
Ja, Rita Steinberger.
Mein Mann ist Patient.
Augenblicke vergingen.
Ein Blick auf  Siegfried.
Sein Mund war leicht geöffnet.
Die Lippen dunkelblau.
Es schien, als würde er kaum mehr Luft bekommen.
Die Stimme des Arztes riss sie vom Anblick ihres Mannes los.
Es geht ihm schlechter.
Schon den ganzen Tag.
Irgendwie stand Rita neben sich.
Hörte sich selber zu.
Der Arzt unterbrach sie.
Ich komme sofort.

Eine halbe Stunde später schlief Siegfried.
Sein Atem war wieder etwas leichter.
Dr. Herwig bat Rita ins Wohnzimmer.
Seine fröhliche Maske, die er während der Behandlung an den Tag gelegt hatte, legte er schnell ab.
Ich fürchte, das Spenderherz wird zu spät kommen.
Wenn nicht ein Wunder geschieht…
Er musterte Rita und ihr müdes Gesicht.
Soll ich Ihnen eine Hilfe schicken,  die Sie etwas entlastet?
Rita schüttelte den Kopf.
Darauf kam es jetzt nicht mehr an.
Sie wusste selber, dass kein Spenderherz rechtzeitig für ihren Mann frei werden würde.
Die seltene Blutgruppe…
Und falls doch, war er zu schwach für eine Operation.
Herwig deutete ihre Antwort anders.
Bei aller Liebe, Frau Steinberger.
Sie sollten auch einmal an sich denken.
Rita hätte beinahe gelacht.
Stattdessen wandte sie sich ab.
Wann hatte sie schon einmal Gelegenheit gehabt an sich zu denken?
In den letzten zwanzig Jahren?

Zwei Tage später.
Es war nach 22:00 Uhr.
Ihr Mann röchelte leise.
Sie ließ ihre Ehe rekapitulieren.
Keine Kinder.
Siegfried hatte keine gewollt.
Er hatte immer bestimmt was geschah.
Wir brauchen das nicht.
Wir haben kein Interesse.
Wir benötigen nichts Neues.
Wir fahren jedes Jahr nach Tirol auf Urlaub.
Wie sie, Rita, es hasste, dieses WIR.
Dass doch  nur ein enormes ICH war.
ICH allein.
Nie fragte er sie um seine Meinung.
Er gestand ihr auch keine zu.
Und sie hatte keine Chance sich bei irgendwem auszureden.
Hier hielten Siegfried alle für einen tollen Ehemann.
Weil er nicht fremdging.
Stimmt.
Er schlug sie auch nicht.
Nicht körperlich.
Aber die Bevormundung schmerzte fast genau wie derbe Prügel.

Rita warf einen Blick auf ihren Mann.
Immer hatte sie dem Bild der glücklichen Ehefrau entsprechen müssen.
Und sperrte sich doch oft heimlich nachts im Bad ein um zu weinen.
Sie wäre so gern arbeiten gegangen.
Aber Siegfried ließ das nicht zu.
Meine Frau muss nicht arbeiten gehen!
Ihre Augen blickten fast hasserfüllt auf ihren langjährigen Gefährten.
Da bemerkte sie eine Veränderung in seinem Gesicht.
Die Atmung war ganz flach.
Im Grunde hörte sie sie gar nicht mehr.
Mein Gott!
Er wird doch nicht…
Dr. Herwig kam sofort.
Er war über eine Stunde da.
Ich kann nichts mehr tun.
Den Transport ins Spital würde er nicht überleben…
Kurz nach Mitternacht starb Siegfried.
Dr. Herwigs Worte waren voller Mitgefühl.
Es tut mir so leid.
Wenn ich Ihnen irgendwie helfen kann…
Rita drehte sich weg.
Sie konnte nicht weinen.
Obwohl es der Mediziner vermutlich erwartete.
Sie begriff langsam, dass es vorbei war.
Tausende Gedanken im Kopf.
Schließlich flüchtete sie ins Bad.
Dr. Herwig schüttelte den Kopf.
Seine Mimik war ganz Mitgefühl.
Arme Frau…
Das ist der Schock!

Spätsommer.
Zweieinhalb Monate später.
Rita spazierte von der Arbeit heim.
Ein paar Stunden in der Woche putzte und bügelte sie jetzt bei einer Geschäftsfrau im Ort.
Nicht dass sie es finanziell nötig gehabt hätte.
Siegfried hatte viel Geld hinterlassen.
Und eine nette Pension.
Aber es tat einfach gut wieder unter Leute zu gehen.
Mit anderen Leuten zu reden.
Selber zu entscheiden…
Einfach im Kaffeehaus zu sitzen.
Niemandem Rechenschaft schuldig zu sein.
Vor ihrem netten Einfamilienhaus blieb sie stehen.
Vor einem Monat erst hatte sie die Fassade neu streichen lassen.
Weg mit den Schindeln, auf die Siegfried einmal bestanden hatte!
Und ein frisches Hellgrün an die Mauern.
Blumenkästen.
Und ein großer Oleander beim Eingang.
Rita strahlte.
Vielleicht im nächsten Jahr noch eine Veranda an die Südseite.
Unbedingt mit einer Hollywoodschaukel!
Um die warmen Abende im Sommer zu genießen.
Man würde sehen, was ihr noch einfiel.
Sie hatte keine Eile.
Nicht nach diesen zwanzig Jahren.
Jetzt hatte sie alle Zeit der Welt…! 

Vivienne

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