Neue Bohnen Zeitung


von Vivienne  –  Februar 2005



Die Ballade vom Engel auf der Durchreise

Engel 1717 war auf der Durchreise.
Er hatte auch einen richtigen Namen.
Aber Gott nannte ihn immer 1717.
Wenn er ihn zu sich rief.
Zahlen konnte der sich nämlich leichter merken.
Als ein paar tausend Namen…
Und nun war 1717 auf der Durchreise.
Er sollte eigentlich ins Heilige Land.
Ins vormals Heilige Land.
Einen Auftrag erfüllen.
Wie viele seiner Kollegen.
Auf aller Welt.
Und im ganzen Universum.
Zu allen Zeiten.
1717 hatte schon so manchen Auftrag erfüllt.
Die meisten davon zur Zufriedenheit von Gottvater.
Aber nun hatte er ein Problem.
Er hatte eine Zerrung in einem seiner Flügel.
Und die tat weh.
So  musste er landen.
Er besah sich die Stelle an seinem rechten Flügel.
Nichts Schlimmes.
Aber er würde ein paar Tage hier verweilen müssen.
Damit die Zerrung sich bessern konnte.
Also musste er sich mit dem Himmel in Verbindung setzen.
Dass er sich bei seinem Auftrag verspäten würde.
Keine Tragik.
Was waren schon ein paar  Tage?
Seit den vielen Millionen Jahren?
Seit dem Anbeginn von Raum und Zeit?

Er setzte sich auf eine Bank im Park.
Unsichtbar.
So fiel er am wenigsten auf.
Und er fühlte sich wohl dort.
Blühende Bäume.
Spielende Kinder.
Was konnte man mehr verlangen?
Aber was war das?
1717 blickte sich um.
Dort schluchzte eine Frau.
Hemmungslos.
Sie stand unter einem alten Baum.
Ihr Körper zitterte.
1717 überlegte.
Sollte er helfen?
Im Grunde war er freigestellt im Moment.
Aber er kannte sich selbst.
Er wollte der Frau helfen.
Sonst ließ es ihm keine Ruhe.
Also stand er auf.
Und binnen einer Sekunde nahm er menschliche Gestalt an.
Das ging ganz leicht.
Dann ging er auf die Frau zu.
Kann ich Ihnen helfen?
Sie schüttelte den Kopf.
Konnte sich kaum beruhigen.
Schließlich reichte er ihr ein Taschentuch.
Mehr fiel ihm nicht ein.
Die Frau schnäuzte sich.
Trocknete ihre Tränen.
Und dankte ihm schließlich.

Eigentlich hätte 1717 jetzt weitergehen können.
Aber er blieb trotzdem bei der Frau stehen.
Er wusste nicht genau, warum.
Und schließlich erzählte sie ihm von ihrem Kummer.
Sie sei verliebt in einen Mann gewesen.
Aber der liebte sie nicht.
Das wusste sie jetzt.
Das tut mir leid.
1717 bemühte sich beruhigend zu klingen.
Aber vielleicht könnt ihr zwei ja Freunde sein.
Auch eine Freundschaft ist etwas sehr Schönes und Wichtiges.
Die Frau schüttelte den Kopf.
Ihre Augen füllten sich wieder mit Tränen.
Er braucht mich nur.
Ich bin ihm Mittel zum Zweck.
Aber Freundschaft?
Wie soll ich ihm noch glauben?
Wie selten war er wirklich ehrlich zu mir!
Die Stimme der Frau brach.
1717 wurde ganz traurig.
Er verstand, was die Frau sagen wollte.
Zwar kannte er die Liebe zwischen Mann und Frau selber nicht.
Engel sind geschlechtslos.
Aber die Verzweiflung dieser Frau rührte sein Herz.
Hören Sie zu.
Sie wissen nicht sicher, dass er sie nur ausnutzt.
Sie sind verbittert, weil er ihre Gefühle nicht erwidert.
Und weil er nicht immer ehrlich war.
Ob er sie vielleicht doch mag, weiß ich auch nicht.
Vielleicht sollten Sie weggehen von ihm.
So finden sie am ehestens heraus, was sie ihm wirklich bedeuten.
Nur wenn er sie dann links liegen lässt, hat er Sie nicht verdient.
Denn dann hat er Ihnen nur etwas vorgemacht.
Und dann ist er ein schlechter Kerl.
Dann dürfen Sie ihn ruhig vergessen.
Mit gutem Gewissen.

Die Frau sah ihn lange an.
Sie sagte kein Wort.
Ihre Augen waren noch gerötet.
Aber sie zitterte nicht mehr.
Keine Tränenspuren auf den Wangen.
Plötzlich ein leises Lächeln auf ihren Lippen.
Sie haben Recht.
Ich werde weggehen.
Dann habe ich Klarheit.
Und wenn ich Recht habe, bin ich ohne ihn besser dran.
Danke.
Sie küsste den überraschten 1717 auf den Mund.
Drehte sich um und ging schnell weg.
Erleichtert nickte der Engel mit dem Kopf.
Schön, dass sich das so gut klären ließ!
Binnen einer Sekunde wurde er wieder unsichtbar.
Ging zurück zu seiner Parkbank.
Die Zerrung im Flügel klang auch langsam ab.
Morgen würde er seine Reise wieder fortsetzen können…

Vivienne

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