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 Home Prosa Aus dem Hinterhof der Seele

29.07.2005, © Vivienne

Heimkehr

Walter lehnte sich in seinem Sitz zurück.
Der Zug ratterte durch die Nacht.
Es war dunkel im Abteil.
Ihm gegenüber döste ein junger Mann.
Wahrscheinlich ein Student.
Walter hatte ihn vorhin kurz taxiert.
Dreadlocks.
Khakifarbene Hose.
Und ein Rucksack.
Also ziemlich alternativ.
Kurz vor Mitternacht erst.
Walter saß im Nachtzug von Berlin nach Wien.
Liegewagen hatte er keinen mehr reservieren können.
So kurzfristig.
Aber Walter war sich sicher.
Er hätte ohnedies kein Auge zutun können.
Nein.
Er würde die ganze Nacht wach sein.
Bis kurz vor acht Uhr.
Wenn er in Wien ankommen würde.
Walter seufzte.
Um Kurt zu sehen.
Vielleicht noch…

Heute Morgen hatte ihn Iris angerufen.
Iris seine Schwägerin.
Überraschend.
Es geht ihm schlecht.
Die Chemotherapie greift nicht mehr an.
Es ist aussichtslos.
Walter…
Sie stockte.
Er würde dich gerne noch sehen.
Er würde ihn gern sehen.
Bevor…
Wie lange war er nicht in Wien gewesen?
Fast zwanzig Jahre.
Damals war er mit einem Freund nach München gefahren.
Hals über Kopf.
Erst nach und nach hatte sich Walter nach oben gearbeitet.
Nicht nur geographisch.
Er war in Berlin gelandet.
Und er war Geschäftsführer geworden.
Unvermittelt musste er an Iris denken.
Seine schöne Schwägerin.
Und einmal weit mehr für ihn als alle anderen Frauen danach.
Wie sie wohl aussah?
Walter ertappte sich dabei, Varianten zu überlegen.
Kurzes Haar.
Lockiges Haar.
Aber war das nicht egal?
Ihre wunderbaren blauen Augen konnte sie nicht verändert haben.
Niemals…

Die Zeit kroch träge dahin.
Walter kam wieder nach Wien.
Um seinen Bruder sterben zu sehen.
Und die Frau, die er einmal geliebt hatte.
Und die ihn verlasen hatte.
Nicht wegen Kurt…
Nein, nicht wegen seines Bruders…
Walter ballte die Faust.
Warum hatte er sich damals auf diese Sache eingelassen?
Wohl in erster Linie aus Wut.
Und aus Hass.
Kurt hatte die elterliche Firma übernommen.
Und nicht er.
Obwohl er, Walter, der ältere war.
Das Testament seines Vaters war unmissverständlich gewesen.
Also hatte er sich rächen wollen.
Die Idee mit dem fiktiven Auftrag hatte er von einem Freund.
Und dieser Auftrag sollte Kurt schädigen.
Bis an den Rand des Zusammenbruchs.
Er hätte zufrieden sein können.
Wenn nicht Iris davon erfahren hätte…
Sein Freund verplauderte sich in ihrer Gegenwart.
Hätte der nicht den Mund halten können!
Aber Iris ging.
So wie er floh.
Er floh vor der Verantwortung.
Irgendwann erfuhr er dann dass Iris Kurt geheiratet hatte.
Damals hatte er sich geschworen:
Ich kehre nie mehr heim nach Wien.
Nie mehr!

Die Lichter blendeten Walter.
Immer wieder.
Sie kamen von Bahnhöfen und Stationen.
Aber auch von Städten.
Straßenlaternen.
Walter stand auf.
Ob es im Speisewaggon Kaffee gab?
Dann setzte er sich wieder.
Er merkte.
Er wollte schon wieder fliehen.
Vor der Wahrheit.
Seine Gedanken.
Sie sagten ihm seit heute Morgen, was er so lange verdrängt hatte.
Der Betrug war nicht gerechtfertigt gewesen.
Nein.
Die Reaktion eines beleidigten jungen Mannes.
Der nicht ertragen hatte können:
Sein Vater hatte völlig Recht gehabt.
Kurt war der bessere Mann auf dem Posten.
Er hatte die Firma aus dem Debakel geführt.
Dem von ihm, Walter, verschuldeten Debakel.
Mit Umsicht und ohne Jammern.
Kurt hätte sich leicht auf ihn ausreden können.
Aber er tat es nicht.
Er hatte nicht einmal Anzeige erstattetet.
Obwohl er allen Grund dazu gehabt hätte.
Allen Grund…

Walter blickte aus dem Fenster.
Die Lichter warfen schwere Schatten in sein Gesicht.
Ja.
Kurt hätte ihm die Polizei auf den Hals hetzen können.
Sich schadlos halten.
Aber er tat es nicht.
Und trotzdem.
Immer hatte er, Walter, die Position des Beleidigten gepflegt.
Mit Akribie.
Ihm war ja so großes Unrecht zugefügt worden!
Er war im Recht gewesen.
Walter hatte plötzlich nasse Augen.
Sein Bruder würde sterben.
Wahrscheinlich schon in den nächsten Tagen.
Aber Kurt wollte ihn noch einmal sehen.
Ohne wenn und aber.
Kein Wort von dem Betrug.
Kein Wort von seiner, Walters, unsinniger Haltung.
Marke trotziger Bub.
Obwohl er, Walter, sich beruflich profilieren hatte können.
Dazu gelernt hatte er nicht.
Nicht wirklich.
Erst jetzt begriff er:
Zwanzig Jahre vergeudet.
Jahre die ihm keiner zurückgab.
Die Liebe von Iris verloren.
Und die kostbare Zeit mit Kurt.
Mit seinem Bruder…
Aus Stolz.
Und aus Dummheit…

Unverzeihlich.

Vivienne

 

 

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