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05.10.2005, © Vivienne

Die Ballade vom dicken Mädchen 

Engel 1717 sah sich in dem Kaffeehaus neben der Schule um.
Irgendwo musste sich sein neuer Auftrag befinden.
Besser gesagt: der Mensch dazu.
Aber hier saßen so viele Jugendliche.
Redeten und lachten durcheinander.
Engel 1717 versuchte angestrengt über die Köpfe hinweg zu sehen.
Dann sah er das Mädchen.
Mit den kurzen, dunklen Haaren.
Und der Brille.
Es saß ganz allein an einem Tisch.
Und las konzentriert in einem Buch.
1717 sah an sich herunter.
Er trug ausgewaschene Jeans und ein labbriges T-Shirt.
Was sich sein Boss, Gott, immer wieder für ihn einfallen ließ!
Aber er machte gute Miene zum bösen Spiel.
Kämpfte sich zu dem dicklichen Mädchen durch.
Hi!
Er blickte das Mädchen freundlich an.
Dieses blickte irritiert auf.
Dich kenn ich gar nicht.
Erst nach einer Weile brachte es diesen Satz heraus.
Macht nichts.
Jetzt kennst du mich.
1717 gab sich von seiner formlosen Seite.
Darf ich mich zu dir setzen?
Das Mädchen starrte ihn an.
Du willst dich wirklich zu mir setzen?
Bist du sicher?
1717 nickte.
Dann nahm er Platz.

Das Mädchen wurde leicht nervös.
Es errötete ein wenig.
Und begann sich hinter dem Buch zu verstecken.
Was liest du?
So schwer machte es ihm das Mädchen.
Gesprächig schien es nicht zu sein.
Das Mädchen ließ das Buch sinken.
Das fragt mich aber normalerweise niemand.
Willst du es wirklich wissen?
Der Engel nickte.
Das Mädchen seufzte.
Albert Einstein.
Die Relativitätstheorie.
1717 musste schmunzeln.
Er hatte Einstein schon kennen gelernt.
Ein sehr gelehrter Mensch.
Das Mädchen beobachtete ihn interessiert.
Das Buch schien plötzlich Nebensache zu sein.
Ich lese wirklich viel.
Ich bin das, was man ein kluges Mädchen nennt.
Weißt du.
Eine richtige Streberin
…
Es nahm die Brille ab.
Wenn es Tests gibt, bin ich sehr beliebt.
Ich kann gut einsagen.
Aber sonst…
Das Mädchen seufzte.
Mich mag niemand.

Betroffen blickte 1717 dem Mädchen ins Gesicht.
Es war keine Schönheit.
Unvorteilhaft gekleidet.
Und es war einfach dick.
Aber sein Gesicht strahlte Freundlichkeit aus.
Und Ehrlichkeit.
Warum liebt dich niemand?
Engel 1717 sah traurig aus.
Das Mädchen wischte sich eine Träne vom Gesicht.
Weil ich fett bin.
Weil ich nicht hübsch bin.
Alle brauchen mich.
Aber keiner liebt mich…
Das Mädchen begann immer mehr zu weinen.
Und 1717 konnte das nicht mit ansehen.
Er rückte zu ihr hin.
Und nahm sie in den Arm.
Ließ sie an seiner Schulter ausweinen.
Das Mädchen begann sich langsam zu beruhigen.
1717 sagte kein Wort.
Er wartete geduldig, bis das Mädchen seien Tränen getrocknet hatte.
Dann nahm er seine Hand.
Du liebst dich selber nicht.
Kann das sein?
Du magst dich selber nicht.
Weil du nicht aussiehst wie die hübschen Mädels hier und in der Schule.
Und du glaubst, dass dich niemand mag.
Weil du nicht wie eine dieser Grazien bist.
Aber der Punkt ist:
Du magst dich selber nicht.
Genau aus dem Grund hast du Kontaktschwierigkeiten.
Das Mädchen bekam große Augen.
Aber das stimmt nicht!
Wie kommst du darauf?
1717 schüttelte den Kopf.
Du weißt, dass ich recht habe.
Du bist ein sehr kluges Mädchen.
Vielleicht hab ich es dir sehr direkt gesagt.
Aber es ist so…

Das Mädchen schwieg.
Und warum will mich dann niemand?
Wenn du Recht hast:
Dann kommt es ja auf Schönheit allein nicht an!
1717 sah sie ernst an.
Du gönnst dir kein Glück.
Unbewusst.
Du solltest lieber Sigmund Freud lesen.
Und nicht Einstein.
Einen Moment dachte er seine erste Begegnung mit Freud nach dessen Ankunft im Paradies.
Dann widmete er sich wieder dem Mädchen, das sein Auftrag war.
Du gönnst dir nichts.
Und du kapselst dich selber ab deswegen.
Ich weiß nicht, was in deinem Leben falsch gelaufen ist.
Aber dir muss Schlimmes passiert sein.
Trotzdem kannst du etwas tun.
Geh auf die Menschen zu.
Begib dich in Gesellschaft!
Man wird dich bald schätzen lernen.
Du kannst auch abnehmen.
Du wirst dich dann besser fühlen.
Es wird dir nicht helfen geliebt zu werden.
Aber es ist ein Anfang.

Das Mädchen sah ihn mit großen Augen an.
Du weiß viel von mir…
Aber abnehmen…?
Schuldbewusst sah das Mädchen zu Boden.
Ich habe nicht die Kraft dazu.
Für wen denn?
Die Stimme des Mädchens brach.
1717 stupste das Mädchen an.
Für dich.
Nimm ab für dich!
Der beste Weg zur Eigenliebe!
Liebe dich selbst!
Und gönn dir einen schönen Körper!
Und ein schönes Leben!
Wenn du dich liebst.
Wird dich auch bald jemand anderer lieben
.
Irgendwann lernst du jemand kennen, der dich mehr liebt als jede andere!
Die Augen des Mädchens leuchteten kurz auf.
Vielleicht hast du wirklich Recht.
Es ist ein Anfang.
Besser als im Café sitzen.
Und Torte essen.
Mit Energie stand das Mädchen plötzlich auf.
Weißt du was?
Ich probiere es einfach aus!
 

Vivienne/Gedankensplitter

 

 

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