Lilly und das Älterwerden

„Wie soll ich das verstehen, Toni?“
„Genau so wie ich es gesagt habe!“
„Du meinst?“
„Was ich meine, ist dies! Der Mensch lebt nicht nur vom Brot allein! Diesen alten Sinnspruch kennst du sicherlich zur Genüge und alleine sein Alter macht ihn nicht unbedingt bedeutender, als er sich dir schon vor Jahrzehnten erschlossen hatte, oder auch nicht.“
„Und was will mir der Autor damit sagen, der Autor deines, ach so zutreffenden Sinnspruches, der mir nur meine Abhängigkeiten von weiteren Fremdeinflüssen, neben der erzwungenen, regelmäßigen Nahrungsaufnahme vor Augen führt und mich damit nur umso mehr meiner Hilflosigkeit versichert?“

Vivienne schaute mich mit leicht spöttischem Blick an und gab mir damit unbewusst zu verstehen, dass ich anscheinend durch diesen nicht gerade sehr originellen Ausflug in die Welt der platten Weisheiten, genau das sie am meisten beschäftigende Thema, ihr Thema gewissermaßen, angeschnitten hatte.
„Der Autor will damit auf des Menschen Unvermögen aufmerksam machen, irgendwo auf diesem Planeten ganz allein zu sein und nur das zu tun, was ihm gerade passt, ohne auf Befindlichkeiten anderer, ohne ihn genauso einsamer Menschen, Rücksicht nehmen zu müssen.“
„Ich bin genetisch auf das Miteinander programmiert, der Wunsch alles hinzupfeffern, ist mir sozusagen wesensfremd, da soziales Wesen und in meiner eigenen, vorgegebenen Vita gefesselt und gar nicht in der Lage, meinen Freiraum zu vergrößern über den mir zugestandenen Bereich hinaus?“

Ihr spöttischer Blick verriet mir, dass sie so gar nicht meiner Meinung war, sein wollte.
„Du wirst mir Recht geben: Es ist nicht leicht, sein Korsett, welches neben sozialen Konventionen, den Korsettstangen sozusagen, auch aus einem umfangreichen stofflichen Gelumpe, wie selbst gestellten Aufgaben, welche mehr oder weniger flexibel, sich deinen Rundungen anpassend, jedoch dir immer dann Halt geben, wenn mal Not an der Frau ist und dir das Ganze zu entgleiten droht.“

Vivienne schaute an sich herunter, als ob sie prüfen wollte, ob ihr Korsett seine Aufgabe noch erfüllte, oder es bereits nötig würde eine Größe zuzulegen. Solcherlei Gedanken hatte ich, obwohl Viviennes makellose Figur jeder Enddreißigerin, nicht nur Freude, sondern im höchsten Maße, Ehre machen musste. Nein, nein, damit hier keine Irrtümer entstehen, Vivienne hat Traummaße, die jedem Junggesellen und nicht nur diesem, die Einnahme von Blutdruck senkenden Mitteln anempfehlen.
Eine technische Installation zur Erhöhung des Wohlfühlfaktors, wie bei vielen Vierzigjährigen nicht fehl am Platze, bei Vivienne absolut überflüssig.

„Ich will ja auch nicht hinter Klostermauern bei Schweigenonnen meinen Lebensabend verbringen, sondern nur meine Gedanken ordnen, meine Lebenssituation überdenken, mit mir ins Reine kommen und ausspannen.“
„Tue dir keinen Zwang an, gehe in dich, komme mit dir ins Reine und lass die Seele baumeln, Vivienne. Und vergesse bitte nie, dass wir dich brauchen, nicht nur wie das sprichwörtliche Salz in der Suppe, die Schnürriemen in unseren Wanderstiefeln, oder Christiane Sabinensen am Sonntagabend.“

„Dieser Vergleich hätte es aber nicht sein müssen, jetzt machst du mich aber ganz verlegen, Toni. Mich mit der großen alten Dame der gehobenen Fernsehunterhaltung für politisch völlig unterbelichtete zu vergleichen tut jetzt aber weh.“
Ich sah Vivienne mit dem nur männlichsten, aller männlichsten Blicke an, oder dem was ich dafür hielt und versuchte dadurch ihren Blick zu fesseln und sicherlich wäre mir so etwas wie Hypnose auch gelungen, wenn nicht meine Frau Aimee in die Bibliothek gekommen wäre und uns beiden zu Tische gerufen hätte.

Sie war wieder mal tief in die Küchenhistorie ihres Nordamerikanischen Jägervolkes eingetaucht, soweit solches überhaupt in Europa möglich ist. Die Karibusteaks mit den Süßkartoffeln in traniger Seeleopardenmilch waren einfach köstlich, obwohl Vivienne vielleicht ganz anderer Meinung sein könnte?
Das Mal verlief ein wenig schweigsam!
Aimee hatte wohl noch etwas von unserer Unterhaltung mitbekommen und fragte nachdem wir gemeinsam in den Raum zurückgekehrt waren, den wir in diesen kühlen Tagen oft nutzen, des offenen Kamines wegen, ob denn Vivienne auch immer Sabinensen schaute, am Sonntag Abend, der einzigen Fernsehsendung, bei der sie selber wohl kaum ein Wort verstanden hatte, obwohl es immer ihr einziges Verlangen war, hier ihr Deutsch zu verbessern.

„Weißt du Vivienne, die Gastgeberin hat immer ganz klare Fragen gestellt und die Gäste haben anscheinend immer ganz andere Fragen beantwortet und für mich war das immer sehr verwirrend. Bei uns gibt man immer Antworten auf Fragen und bei dieser Talkshow wurden immer Gegenfragen gestellt. Das ist unhöflich und für Ausländer im höchsten Maße unerquicklich. Trotzdem habe ich mir fast alle dieser Sendungen angeschaut, oder wie Toni immer feststellte, alle dieser Sendung angentan.“

Aimee hatte bei diesen Worten ihre Arme um meinen Hals geschlungen und Vivienne fast triumphierend angesehen. Fast schien es, als wäre in diesem Augenblick eine kleine grundsätzliche Frage geklärt, die eigentlich nie gestellt worden war, jedenfalls nicht zwischen diesen beiden völlig verschiedenen Frauen. Die Frage nämlich, ob eine jüngere Frau, gegenüber einer Älteren, bei der Eroberung eines Mannes, ihrer Jugend wegen, die besseren, will sagen, die jüngeren Karten hat und sie trotz des Fehlens an Lebensjahren, einen unaufholbaren Vorteil besitze.

Ich muss sagen, dass, als mir diese Gedanken durch den Kopf eilten, ich mir meiner privilegierten Rolle in diesem ungleichen Kampf, sehr wohl bewusst war und ich diesen Zustand mehr oder minder genoss. Hatte mich mein männlich bedingter Machismo in die behaarten Arme genommen?
Ein Blick in die Runde, sagte mir aber beruhigend, dass es meine Frau und nicht der männliche Urtrieb war, der mich umklammerte.
Das allerälteste Problem der Weltgeschichte, fand hier in unserem kleinen, überschaubaren Bereich, sozusagen unter Ausschluss der Öffentlichkeit wie beinahe überall auf der Welt, eine kleine Bühne. Jugend gegen Lebenserfahrung, Neues gegen Bewährtes, Forderndes gegen Beständiges!
Ich konnte diesem Schlagabtausch nur als der unbeteiligte Beobachter zusehen, der ich eigentlich nie sein würde, dessen Aufgabe ich allerdings durch meine mir selber aufzuerlegende Neutralität, ich nie ins Auge fassen würde.

Erotisches Geknister war es nicht, was mich dazu brachte, meinen Beobachtungsplatz zu verlassen, sondern der Kamin, der nach einem frischen Holzscheit verlangte, damit er uns weiterhin seiner wärmenden Zuneigung gewiss blieb.
Ich hatte schon frühzeitig, nach Viviennes Anruf , das Feuer entfacht, weil es für die Jahreszeit viel zu kalt war und ich mich auf Vivienne freute. Ich freute mich immer auf diese herzliche Frau, die es immer vermochte, mich mit ihrer ungemein erotischen Ausstrahlung in den Bann zu zwingen.
Diese Vierzigjährige hätte beinahe allen Dreißigjährigen schon schnell das Wasser abgegraben, wenn, ja wenn sie sich selber überhaupt auf solche Stutenbeißereien einlassen würde. Tat sie aber nicht, so jedenfalls meine Überzeugung.

Vivienne, was wäre passiert, wenn nicht Aimee? Ich wollte oder konnte mir diese Frage nicht beantworten.

Vivienne musste wohl so etwas wie das Gedankenlesen beherrschen, so mein erster Gedanke, als sie mich nach meiner Rückkehr zu meinem Stuhl ganz unverfroren fragte: „ Toni, könntest du dir vorstellen, dich in eine Frau wie mich verlieben?“
Aimee hatte ihre schon von Natur aus schräg gestellten, mandelförmigen Augen zu zwei schmalen Schlitzen zusammengekniffen und ihr Blick schien mich zu warnen, jetzt einen Fehler zu machen, den ich bereuen könnte, trotzdem konnte ich noch einen kurzen Anflug von belustigter Neugierde in ihrer eurasischen Schönheit erhaschen, der wiederum ein klein wenig Entwarnung signalisierte.

„Vivienne, Damen deines Alters, (hatte ich Alter gesagt?) Vivienne solche Frauen wie du haben mich immer angezogen (so schnell sitzt man in der Falle, schoss es mir durch den Kopf! Zwei schwere Fehler in einem einzigen Satz!) und wenn du auf dein Alter abzielst ( ganz schwerer Fehler, Toni du Depp!), ähem, ich meine, Frauen wie du scheinen alterslos zu sein, sind tatsächlich alterslos, werden nicht wegen ihrer Jugendlichkeit, sondern ihrer Liebenswürdigkeit geliebt, was ich eigentlich sagen will ist………“
„Du könntest eine Frau, wie mich auch dann noch lieben, wenn sich der Zahn der Zeit schon die schönsten Stückchen von ihrer äußeren Hülle abgebissen hätte und der verbleibende Rest nur noch ungenügend auf den vielleicht auch noch vorhandenen wertvollen inneren Wert hinweisen würde?“

Ich gestehe, dass, wenn mich bisher das Gespräch noch ein wenig belustigt hatte, ich nun den Eindruck hatte, gegen eine ziemlich harte Wand geknallt zu sein.

„Vivienne ich liebte schon immer deine Formulierungen, Du bist immer in der Lage, ziemlich einfachen Dingen, die zuvor vermisste Bedeutung zu geben und dadurch ergeben sich ganz neue Betrachtungswinkel. Was ist denn das Problem in der Selbstbetrachtung? Man kann nur aus der Betrachtung seines Gegenübers, einen Blick auf sich selber werfen. Wie in einen Spiegel! Nur, jeder weiß, dass ein Spiegel immer nur ein Spiegelbild ergibt, niemals die Realität abbildet.“

Aimee hatte wieder ihren Sitzplatz auf meiner Stullehne eingenommen und mir ihren rechten Arm um die Schulter gelegt, wie um mich ihrer Unterstützung zu vergewissern. Auf einmal wusste ich wieder, warum ich dieses junge, quirlige Wesen liebte, einfach lieben musste.

Es war beleibe nicht der Abstand an Jahren zu mir, der mich veranlasst hatte, dieses unvergleichlich liebenswerte Wesen für immer an mich zu binden und mit nach Deutschland zu nehmen, sondern die Tatsache, dass ich, der beinahe überzeugte Single, damals eine meiner grundsätzlichsten Überzeugungen über Bord geworfen hatte, nur weil diese kleine resolute Frau mich im wahrsten Sinne des Wortes an den Kanthaken genommen hatte. Aimee hatte mich abgeschleppt, nicht umgekehrt! Was allerdings nur dadurch zu erklären war, dass ich falsch geparkt hatte und Aimee Politesse war in Montreal. Zunächst hing mein Leihwagen am Haken und nach einem fast unverschämten Sturmangriff meinerseits und ein paar Tassen Kaffee später, ich an Selbigem.

„Vivienne, für jede Frau kommt einmal der Abschied und ich glaube, dass es im Falle Sabinensen eine ungeheure Bereicherung bedeutet, wenn jetzt Anne den Job der Moderatorin übernimmt.“

Aimee sah Vivienne neugierig an um deren Reaktion nicht zu übersehen, wenn diese denn eine solche zeigen würde.

„Aimee, ich bin überzeugt, dass ich dich richtig verstehe. Ich brauche mir keine Gedanken zu machen, nach mir wird immer wieder jemand Frischeres, Jüngeres und Fitteres kommen, komme was da wolle.“
„Wenn du es so ausdrücken willst. Obwohl ich eigentlich damit ausdrücken wollte, dass du es mit allen aufnehmen kannst, wenn du nur willst, es dir nur zutraust! Nur es wird nicht leichter. Du musst es nicht nur dir beweisen, sondern im vermehrten Maße deiner Umwelt. Du als Chefredakteurin, hast der Sabinensen gegenüber den Vorteil, für deine Lesern beinahe unsichtbar zu sein. Die Sabinensen entblättert sich nicht so wie du in der Zeitung, dafür bewahrst du dir eine gewisse Anonymität, da du ja nur deine Gedanken ausbreitest und als reale Person höchstens in der Phantasie der Leser existierst. Die Sabinensen muss beachten, dass sie ihre Beine immer schön übereinander geschlagen, nicht allzu viel von ihren Gedanken herauslässt. Ihre Präsenz ist auf Körperlichkeit aufgebaut nicht auf Persönlichkeit.“

Ich verspürte ungeheure Genugtuung, als ich feststellen konnte, jetzt beinahe aus der Talkrunde ausgeschlossen, in den Part des stimmlosen Fernsehzuschauers eingewechselt worden zu sein. Ein Part, der mir sehr gut gefiel.
Die beiden Damen, die ehrlich gesagt beide, auf die jeweils ganz eigene Art, mein Phantasie beflügelten, sprachen noch eine ganze Zeitlang über frauenspezifische Dinge unter ganz wesentlicher Berücksichtigung der Veränderungen durch das Altern, die nun mal gottgewollt zu sein schienen, jedenfalls nicht immer weg geschminkt zu werden waren, während ich mich meinen Gedanken hingab und zu ergründen suchte, warum ich ein so verdammter Macho war.

Und, verdammt noch mal, ein solcher musste ich wohl sein, weil ich feststellen musste, weil ich anscheinend Frauen mehr als früher, nach dem ganz reizenden Äußeren beurteilte. Nach dem Äußeren beurteilte, obwohl ich es mit früher als Besonderheit zurechnete, hier ganz anders, als Andere zu sein.

Später, als sich Vivienne schon längst ins Gästezimmer verabschiedete hatte, fragte ich Aimee, wo sie um alles in der Welt, Karibusteaks und Seeleopardenmilch aufgetrieben hatte, hier in Südschwaben.

Aimee lachte über das ganze Gesicht und tat ganz geheimnisvoll, in dem sie mir mit ihrer Zeigefingerspitze auf die Nase tippte und leise sagte: „Toni, du weist nicht viel über die weibliche Seele und das was du weist, kannst du nicht richtig beurteilen. Aber glaube, eine Frau hat immer die geeigneten Ideen, um sich ins rechte Licht zu setzen und sie wird immer die richtigen Mittel einsetzen um das Ganze zu retten. Christiane ist ein gutes Beispiel dafür und Vivienne wird ihren Weg schon richtig zu gehen wissen. Bei den Inuit sind die Frauen schon lange vor den weißen Frauen dahinter gekommen, dass eine Frau erst dann zum König des Eises gehen muss, wenn sie nicht mehr in der Lage ist, das Herdfeuer zu entzünden.“

Was mir Aimee damit sagen wollte war, dass sich früher die alten unnütz gewordenen Eskimofrauen den Eisbären selber geopfert hatten, um ihrem Clan nicht weiter zur Last zu fallen.

Ich schaute Aimee an und überlegte, was wohl mit den alten Kerlen passieren würde, die nicht mehr so erfolgreich von der Jagd zurückkämen.

Allerdings würde ich es mir verkneifen müssen, sie danach zu fragen!

Schreibe einen Kommentar