Urlaub-Urlaut – Gastbeitrag

Nach sechzehn Stunden hält der Bus vor dem Hotel in Finale Ligure.Mir war es, seit der Abfahrt aus Berlin, vergangene Nacht um dreiundzwanziguhrdreißig, bis kurz vor der Ankunft, speiübel. Nicht das erste Mal in meinem Leben, aber nie fünfzehn Stunden hindurch, inmitten von 46 Fahrgästen, inklusive mich, eingepfercht zwischen meinem dampfenden Mann, der viel zu warmen Heizung am linken Bein und der kalten Nacht, die an der eiskalten Scheibe an meiner linken Schulter klebte.
Jeweils nach zwei Stunden beruhigte ich mich, doch weil eine geheime Statistik sagt, dass der deutsche Rentner alle zwei Stunden mal muss, musste ich auch alle zwei Stunden, wie ein Lemming, hinter den anderen das Innenleben der Autobahnraststätten erkunden. Um nachher wieder zu leiden, bis sich mein Unwohlsein nach circa zwei Stunden erneut etwas zurechtgerüttelt hatte. Und nach diesem Intervall grüßte wieder das Murmeltier. Und Innocentia Quark.
Innocentia Quark heißt nicht Innocentia Quark, doch ich habe Innocentia Quark aus der Taufe gehoben und zwar im vergangenen Jahr, als wir zusammen die Cinque Terre rauf und runter fuhren. Vielleicht heißt sie schlicht nur Agathe Bauer.

Ich saß in diesem Jahr in der vierten Reihe links, am Fenster, und sie in der vierten Reihe rechts, am Fenster. Von dort fixierte sie mich fünfzehn Stunden lang. Vielleicht hatte sie den bösen Blick und ich litt deswegen so fürchterlich. Irgendwo, als wir vor einer Toilette mit Tür ohne Klinke standen, sah ihr kleiner IQ treuherzig aus den großen braunen Augen zu mir hoch und ihr schmaler Mund sagte: „Ich kenne Sie doch von der Islandreise her!“ „Vergangenes Jahr Cinque Terre“, wagte ich zu widersprechen. „Ja genau, von Island her“, sagte sie zufrieden und ich bin kein Unmensch.

Als ich aus dem Bus steige, schnappt mich sofort die fünfunddreißiggradige Hitze, getränkt mit 85%-ige Luftfeuchtigkeit und quetscht den Rest der Flüssigkeit aus mir, die zwischen dem dampfenden Angetrauten und der mittlerweile glühenden Scheibe übriggeblieben war.

Ich halte meinen Mantel, den ich des Oktobers wegen mitgeschleppt habe, krampfhaft fest und stehe in einer Schlange an, wo man schließlich als Belohnung einen Schlüssel mit einem bleischweren Anhängsel mit Zimmernummer bekommt. Aber erst, wenn man der alten Frau am Empfang, der eher nach einem Altar aussieht, alle erforderlichen Papiere gezeigt hat: Ausweis, Geburtsurkunde, Ehevertrag, Stammbaum bis hin zu Adam und Eva und natürlich die Reiseunterlagen. Oh, auch nicht genug. Die des Mannes müssen auch her. Nur wo ist mein Mann? Ein ganzes Jahr hindurch werde ich ihn nicht los und wenn ich ihn mal brauche, ist er nicht anwesend.
Dann, nach einem harten Kampf, zwischen 46 Fahrgästen, inklusive mich, achtundsiebzig Koffern und Taschen, zwei Fahrern, drei Angestellten, dem alten Hausdrachen, den ein Gast später als Schleiereule betiteln wird und hundertneunundvierzig Vasen in allen Größen und Farben, überall dort, wo man leicht drüberfallen kann, halb ohnmächtig an meinem Mantel festgeklammert, endlich das erlösende Zimmer 205. Duocentocinque.
Die Rollos sind unten, es ist dunkel und es ist schwül, sehr, sehr schwül.

Ich ziehe die Rollos hoch, reiße die Fenster auf, aber es bringt nichts, als die tief hängenden Wolken herein, und neue Flüssigkeit setzt sich auf meine Haut fest. Tropfen, die vor Tagen aus irgendeiner Kloake in Mumbay verdunstet sind, oder aus dem toten Meer, oder aus einem Eisberg aus Spitzbergen, oder was weiß ich von wo.
Ich werfe mich entkräftet auf das Feldbett mit der rutschigen Matratze. Mein Mantel liegt friedlich neben mir. Es wird mir sofort bewusst, dass ich das Glück habe, mein Bett mit einer recht geringen Anzahl von Milben teilen zu müssen, da Milben bekanntlich Metall nicht mögen. Meine Knochen werden nach vier Nächten das Gleiche behaupten.

Ich mache einen fatalen Fehler. Ich gehe duschen. Die Tür zum Bad öffnet sich und blockiert die Eingangstür. Mein Mann treibt sich irgendwo herum und wird staunen, wenn er wiederkehrt, dass die Tür zum Paradies für ihn unbezwingbar ist. Zum Glück bemerke ich die Stufe zum Bad, die man leicht nach oben fallen kann, sonst hätte ich meine Zähne im Waschbecken auflesen müssen. Erschrecke, denn die erste Fliese, auf die ich trete, macht ein höllisches Geräusch. Die anderen verhalten sich aber doch manierlich.

Die Toilette kann man nur benutzen, wenn man mit dem einen Fuß in der Duschwanne steht, denn vor der Schüssel haben zwei Füße nebeneinander keinen Platz. Dafür drückt man vergeblich den stolz glänzenden Knopf der Spülung, denn der hat seinen Geist gleich nach seiner Montage aufgegeben. Doch wenn man an der Kette ohne Griff, die über der rechten Schulter baumelt, kräftig zieht, erbarmt sich ein mickriger Wasserstrahl, die ihm zustehende Pflichten zu erfüllen.
Duschen belebt und macht frisch. Umsomehr, wenn man danach ein Handtuch benutzt, das sich wie grobes Schleifpapier anfühlt! Schmirgel macht lustig und ich werde tatsächlich etwas lebendiger. Doch diese Tätigkeit gebe ich bald auf, denn jetzt schießt das Wasser aus all meinen Poren und ich liege wieder da wie ein brutzelnder Kugelfisch im eigenen Saft, auf diesem, in steifgestärkten Laken verkleideten Grill, und leide.

An diesem Spätnachmittag gehen wir nicht mehr außer Haus. Es ist trüb, es blitz und donnert und es sieht nach Weltuntergang aus. Vom Balkon sieht man am Ende der Straße das tiefdunkle Meer mit den tiefdunkleren Wolken drüber. Ich bewundere Menschen, die jetzt wie ein Salatblatt zwischen diesen Himmel- und Meeressandwichscheiben unterwegs sind. Brrrr! Doch Langeweile kommt auch bei mir nicht auf, denn ich beschäftige mich damit, mich an die neuen Geräuschkulissen zu gewöhnen. Das Haus und die Straße haben ein eigenartiges Echo.

Wenn zwei deutsche Nachbarinnen, weit nach Mitternacht, auf dem Balkon miteinander sprechen, hallt es dreimal wider. Sprechen zwei Italiener auf der Straße miteinander, hallt es fünfzehnmal wider. Bei zwei Italienerinnen hallt es dann fünfundvierzigmal wider und das in den verschiedensten Tonlagen, denn bei jedem dritten Wort entfernen sie sich voneinander immer mehr, weil sie ja nachhause eilen. Und je größer die Distanz zwischen ihnen wird, desto lauter werden sie und das Echo freut sich dreiundsechzigmal. Wenn sie hundert Meter voneinander entfernt sind, schreien sie sich noch immer an, dass man denkt, gleich geht eine Vendetta los. Dabei erzählen sie sich nur, wie toll das neue Pastarezept schmeckt. Und das hundertzweiunddreißgmal widerhallend.

Geht einer der Nachbarn ins Bad und mach das Licht an, und man muss es einschalten, weil es kein Fenster gibt, dann bläst die Lüftung gleich automatisch wie ein schottischer Dudelsacker los. Auch in der gleichen Lautstärke. Lustiger wird es, wenn sie auch noch duschen, die lieben Nachbarn. Das klingt, als würde es Zinnsoldaten regnen.
Mein Mann schlägt sich den Schädel schon das dritte Mal an dem nur halb hochgezogenen Rollo an der Türe zum Balkon ein, ohne dass es ihm in den Sinn kommt, diesen richtig hochzuziehen. Dabei schimpft er, dass die Wände wackeln.
Diese wackeln auch, wenn alle zweiundsiebzig Sekunden ein Motorrad vorbeischeppert, vorbeidonnert, vorbeistottert oder vorbeirattert. Wenn in eine Pause von siebenundzwanzig Sekunden fünfzig Personenwagen vorbeiflitzen, ist das wie Grabesstille.
Vor dem Hotel fließt ein abgespeckter Fluss oder ein vollgefressenes Bächlein, wie man’s nimmt, vorbei. Man hört ihn oder es nicht, was für einen auch noch so abgespeckten italienischen Fluss ungewöhnlich ist, weil halt alles Italienische ringsherum lauter ist.
Die Wildenten, zum Beispiel, die da scheinbar zuhause sind. Herrgott, haben die ein schrilles Geschnatter drauf!
Beim Abendessen geistert die alte Nona um die Tische. Sie hat die Augen überall, schaut in alle Teller rein, sammelt pedantisch jeden einzelnen Bon ein, nicht ohne ihn minutenlang zu untersuchen, ob er auch gültig ist. Wo sie etwas Unregelmäßiges bemerkt, muss eine Angestellte dolmetschen, bis die Sache geklärt ist.
„Schleiereule“, schimpft mein Tischnachbar, weil er den falschen Essensbon mitgenommen hat und jetzt die Schuld auf diese arme Frau abwälzen will.
Nachts stelle ich fest, dass ein Nachbar, oder eine Nachbarin, kann das Geschlecht nicht festlegen, weil das ununterbrochene Schnarchen neutral klingt, meine Nachtruhe sehr beeinträchtigen wird. Als ich morgens um drei das Apogäum meiner Geduld erreicht habe, trage ich mich mit dem Gedanken, den einzigen Stuhl, den wir zeitweilig besitzen, an die Wand zu knallen. Wenn ich nur wüsste, an welche Wand, denn ich weiß bei Gott nicht, ob das gemeine Sägen von links, von rechts, von oben oder von unten kommt.

Halleluja! Jetzt ist der Faden der Geduld auch einem anderen Nachbar gerissen und grade wirft der seinen Stuhl an die Wand.
Zu früh gefreut! Den (die) Schnarcher(in) hat es nicht beeindruckt. Es war wohl die falsche Wand.
Wer jetzt denkt, ich nörgle nur, der ist auf dem Holzweg. Das hier ist ein Tatsachenbericht und außer meinem Übelsein und dem nächtlichen Schnarcher, stört mich hier garnix. Es ist Italien, wie es leibt und lebt und wie ich es liebe. Jedes Jahr brennt mir eine Träne im Herzen, wenn ich das Land wieder verlassen muss und in diesem Jahr wird mir erst ein Schneegestöber in den Schweizer Alpen, bei San Bernardino, dieses Feuer löschen.
Nizza, Cannes, Monte Carlo haben mich zum Schreiben nicht inspiriert. Von da habe ich nur schöne Bilder mitgenommen. Es war schön, sie zu sehen, aber das wahre Leben ist in den engen Gassen meiner Traumwelt.
Mia bella Italia!

© Lisa Nicolis

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